Das sind die neuesten Folgen von meinem Podcast Vinyl & Cooking

Vinyl-Erwerbungen


Die frühen Platten von Genesis höre ich immer wieder. Bis Peter Gabriel ausstieg. Die frühen Gabrielplatten auch, bis Gabriel esoterisch wurde. Steve Hackett, der Gitarrist der frühen Genesis (ab Nursery Crime), hat 1997 und 2013 Studioalben mit Genesis-Covern vorgelegt. Hat mich nie interessiert. Jetzt bin ich auf die neu erschienene Vinylversion seines Konzerts von 2013 in der Royal Albert Hall gestoßen. Die hat mich positiv überrascht. Brillanter Sound (eigentlich immer bei Konzerten aus dieser legendären Halle), die Stimme des Sängers klingt fast wie Gabriel, ohne ihn 1:1 zu kopieren. Und die Songs sind dynamischer und fast „besser“ als die Originale. Gute Gelegenheit die verschüttete Liebe zu Genesis wieder zu entdecken. Danke, Steve! Auch wenn deine Soloplatten ansonsten eher bombastischer Quark sind (so weit ich sie kenne).
Musik: 4 Sterne
Pressung: 5 Sterne
3 LPs

Ganz frisch aus dem Presswerk: Igor Levit spielt alle 24 Preludes und Fugen von Dmitri Schostakowitsch. Und wie! Ich kenne andere Aufnahmen dieser Klavierstücke von 1951. Sie kamen mir immer kalt und mechanisch vor. Nicht wenn sie Levit spielt. Dann werden sie zu glühenden Studien über Einsamkeit und Angst. Denn Schostakowitsch fürchtete in den letzten Jahren des Stalinismus täglich von der Geheimpolizei abgeholt zu werden. Deshalb waren diese Kompositionen in der Tradition von Bach auch sein persönlicher Rückzug ins Private un d gleichzeitig ein Angebot an die Staatsmacht: Gegen Bach könnt ihr doch nichts haben, oder? Das hört man alles bei Levit. Der auch schon ein anderes Werk der Klavierliteratur, das sich mir immer verschlossen hatte, zum Leben erweckt hat: Die Diabelli-Variationen von Beethoven – kürzlich im Wiener Konzerthaus.

Musik: 5 Sterne
Pressung:5 Sterne
3 LPs, wunderschön verpackt in dickem Pappcover.

Meine Mütter würde sagen: Was hörst du denn da wieder für anstrengendes Zeug?! Ja, Mama, sage ich, dass ist Mathrock. Mathrock? Habt ihr das in der Schule? Nein, Mama, das ist eine Form des US Alternative Rock aus den 1990er und Nullerjahren. Und stell dir vor, Mama, das entdecken zeitgenössische Bands aus UK gerade wieder neu. Und alle reden drüber. Aber was ist denn das für eine Musik, Sohn? Naja, schwer zu beschreiben, ein bisschen „ausgerechnet“ vielleicht? Daher der Name? So wie Bach, Sohn? Ja, so wie Bach. Ein bisschen wenigstens, Mama. Nur lauter. Aggressiver. Und viel komplizierter. Komplizierter als Bach, Sohn? Du übertreibst wieder maßlos! Nein, Mama, wenn dann übertreiben Black Midi auf ihrem Debütalbum „Schlagenheim“. Für den etwas ruhigeren Einstieg empfehle ich die meditative Maxi „Sweater“. Da klingen sie eher wie SLowcore, frühe 1990er (Slint und so). Hörprobe: Live on KEXP

Musik: 4 Sterne
Pressung: 4 Sterne
Texte: weiß nicht, sind so klein gedruckt, kann ich nicht lesen, vermutlich klug.

Anderer toller Mathrock
Les Savvy Fav „The Cat and the Cobra“ (1999) und „Go Forth“(2001). Etwas straighter als Black Midi, aber auch ziemlich abgedreht. Witzige Texte und zwei Gitarren, die innovativ miteinander spielen.
31 Knots Trio aus Portland, Oregon. Können sehr anstrengend, aber auch sehr gut sein. Ich empfehle die frühen Sachen z.B. „The Curse of the Longest Day“ (2004)
Q And Not U Aus Washington. Haben auch Disco und Pop in ihren eckigen Rock integriert. Mathrock-Markenzeichen: unkonventionelle Gitarrenriffs und Songstrukturen. Tipp: „No Kill No Beep Beep“ (2000).


Frisch vom Postboten überreicht: Khatia Buniatishvili, Labyrinth. Die georgische Pianistin, die in Paris lebt, hat ein Konzeptalbum aufgenommen. Momentan stehe ich total auf Pianistinnen – natürlich nur musikalisch. Die spielen anders Klavier, weniger angeberisch, weniger technisch brilliant. Dafür mit mehr Emotion. Finde ich.
Buniatashvili spielt ausgesprochen zärtlich und intensiv. Hier wird jedem Ton nachgefühlt, nachgehört, nachgeforscht. Am wichtigsten scheinen die Pausen zu sein. Auf die Spitze getrieben mit John Cages Klassiker 4’33’’ (4 Minuten 33 Sekunden Stille). Ihr Spannungsbogen ist auch phänomenal: von der Renaissance bis zum Pop und zur Filmmusik. Und trotzdem klingt alles wie aus einem Guss. Das ist sehr meditative Musik.
Die Pianistin hat auch kluge Sätze zu ihrer Platte und zu jedem Stück geschrieben. Ich zitiere: „Kindheitserinnerungen aus der Perspektive eines Erwachsenen, Vergangenheit, Gegenwart – aber nicht die Zukunft, denn das Leben ist ein flüchtiger Augenblick, dessen Folgendes ungewiss ist, und das Labyrinth ist das Leben – Schmerz, Zweifel, Zorn, Erleuchtung, Befreiung, Liebe. Es ist der Verstand, der in Gefühlen Erleichterung findet…“

Musik: 5 Sterne
Pressung: 5 Sterne plus

Eine weitere tolle Pianistin: Anna Gourari
Elusive Affinity mit Solostücken von Bach über Schnittke, Kancheli bis zu Pärt und Rihm. Existenzialistisch minimalistisch. ECM, CD, 2019

Visions fugitives mit Solostücken von Prokoviev, Nicolai Medtner und Chopin. ECM, CD, 2014

Canto Oscuro mit Solostücken von Bach, Gubaidulina, Hindemith. ECM, CD, 2012

Der neueste Hype aus UK: Das Debüt ist eben erschienen. Seltsame Musik, nicht wirklich Rock, aber auch kein Jazz, aber ein bisserl Weltmusik mit Geigen und Tröten. „Das Debüt der Londoner Postpunk-Hoffnung ist so chaotisch und faszinierend wie die Generation, die es beschreibt“ schreibt der Musikexpress. Dem kann man zustimmen. Schwer einzuordnen, manchmal auch schwer auszuhalten. Vor allem das Pathos in der Stimme des Sängers, der über „Middle-Class-Depression, Popkultur-Arroganz und Gen-Z-Dekonstruktion“ singt. Na, das sind doch Themen, um die es gehen sollte im zeitgenössischen Pop, oder? Auch für uns GenerationX-Boomer. Trotzdem: Die Singles haben mir irgendwie besser gefallen, nicht ganz so pathetisch.

Hörprobe: https://youtu.be/u3H8O8RJp3M

Musik: 4 Sterne
Texte: muss ich mich noch reinhören…
Pressung/Sound: 5 Sterne

Es ist immer schön, wenn auch nach dem Tod von Mark E. Smith noch „neue“ Sachen erscheinen. Leider ist das meiste Schrott. Hauptsächlich schlechte Liveaufnahmen. Dies ist immerhin eine Ausnahme. Sozusagen die Liveversion des 88er Albums „I Am Curious Oranj“. Leider kein wirklicher Brüller. Die Studioversion ist besser.

Musik: 4 Sterne
Pressung: 5 Sterne plus

Wer wirklich gute Livesachen von The Fall sucht:
The Complete Peel Sessions wunderbare CD-Box, leider nie auf Vinyl erschienen
Fall in a Hole (1982) Australientour, guter Sound
The Twenty-Seven Points (1991-95) Sound manchmal etwas schräg
Live at The Knitting Factory (2004 NYC) noch mit dem besten Sound von all den unzähligen Mitschnitten aus dieser Zeit
The Fall & Mark E. Smith Best of (Birmingham 2002) Vinyl exklusiv 2018
Austurbaejarbio (live 1982 in Reykjavik) neu auf Vinyl herausgekommen, bester Sound, tolle Liverversionen, leider teuer!

Kennt ihr diese tolle Serie „Spiritual Jazz“ vom Label Jazzman aus England? Die hauen jedes Jahr ein paar wenige Sampler mit handverlesenem Jazz raus. Sie haben sich dem modalen, esoterischen und „Deep Jazz“ verschrieben. Also so Zeugs wie die 60er-Sachen von Miles Davis oder den mittleren Coltrane. Immer mit einer Prise „Spiritualität“. Oft auch abgelegenes Zeug, was man heute gar nicht mehr kaufen kann. Immer ganz erstklassige Pressungen! Dies ist die 13. Folge, gerade erschienen. Teilweise ziemlich abgefahren.

Musik: 4 Sterne
Pressung: 5 Sterne plus

Weitere gute Editions aus dieser Reihe sind:
Spiritual Jazz vol.9 Best of Blue Notes, in zwei Teilen
Spiritual Jazz vol.11 Vom dänischen Label SteepleChase
Spiritual Jazz vol.10 eher entspanntere, soulige Sachen von Prestige

ACHTUNG: die Scheiben sind schnell vergriffen!

Das Gesamtwerk für Klavier des wunderbaren baltischen Komponisten Arvo Pärt. Aus den 1950ern und aus den 2000er-Jahren. Kongenial 2014 eingespielt vom holländischen Pianisten Jeroen van Veen, teilweise mit Unterstützung am Cello und zweiten Klavier. Selten hat Pärt bei aller Schlichtheit intensiver das Herz getroffen.

Musik: 5 Sterne
Pressung: 5 Sterne plus

Weitere gute Einspielungen von Pärt:
Tabula Rasa Mit dieser Platte habe ich Pärt kennen gelernt. Mit dem großartigen Gidon Kremer, Keith Jarrett und den 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker. ECM 1984

Diese Platte hat mich mit dem zeitgenössischen HipHop versöhnt: nicht hektisch, dickbackig, goldketchenbehangen. Dafür sozialkritische, selbstironische Texte für Menschen, die dem Teenageralter längst entwichen sind. Atmosphere kommen weder von der Eastcoast noch von der Westcoast, sondern aus Minneapolis. Und auch nicht aus dem Ghetto. Das sind weiße Mittelstandsjungs und genau darüber singen sie auch. Sparsam, entspannt. Und man könnte trotzdem zu tanzen. Achsoja, die Scheibe heißt „Whenever„. Hätten sie auch draufschreiben können. Hätte aber das wunderbare Cover gestört. Ein Gesamtkunstwerk!

Musik: 4 Sterne
Pressung: 5 Sterne

Weitere gute Einspielungen von Atmosphere:
Southsiders und Seven’s Travels, gibt’s beide in wunderbar aufgemachten Vinyl-Ausgaben.